Noch im Jahre 1985 wurde in Frankreich an der Universität
Nantes eine Dissertation (eines Autors namens A. Rocques) angenommen,
die die Existenz und die Rolle der Gaskammern des Dritten Reiches
zu minimalisieren und letztlich gar zu leugnen suchte (Le Monde,
3. Juni 1986), und auch im Deutschland der Nachkriegszeit
hat es nicht an höhnischen Attacken auf die "Auschwitz-Lüge"
gefehlt, allen Versuchen zum Trotz, sie zu unterbinden und Vergangenheit
auf legislativem Wege zu bewältigen.
Von eben diesem Dilemma aber geht Jean-François Lyotard
aus, indem er an eine ältere Polemik von R. Faurisson anknüpft:
"Ich habe Tausende von Dokumenten untersucht. [...] Ich
habe - allerdings vergeblich - einen einzigen ehemaligen Deportierten
gesucht, der mir beweisen konnte, tatsächlich und mit eigenen
Augen eine Gaskammer gesehen zu haben." "Tatsächlich
und mit eigenen Augen": Nur ein Opfer der Gaskammern könnte
die Existenz von Gaskammern bezeugen - es gibt also keine Gaskammern.
Und dieses Dilemma führt ins Zentrum von Lyotards philosophischem
Hauptwerk: Der Streit, von dem es spricht, ist ein "Widerstreit"
zwischen ungleichförmigen Diskursarten, zwischen Sätzen,
die verschiedenen, heterogenen Regelsystemen angehören -
Argumentieren, Erkennen, Beschreiben, Erzählen, Fragen, Befehlen
usw.
"Der Begriff des Streits bezeichnet eine ontologische Situation
des richterlichen Urteilens. Richterlich, insofern der Richter
angesichts der von jeder Partei vorgebrachten Beweisführung
nicht entscheiden kann, denn er verfügt über keine Regel,
die auf beide Fälle anwendbar wäre. [...] Er verhält
sich so, als gebe es zwei Rechte und kein Meta-Recht" (Change
International, 2/1984). Was sich hier abzeichnet, ist eine
Philosophie der Diaspora, der Heterogenität von Diskursarten,
die nicht ineinander übersetzbar sind. Ihr Kontext: "Die
Sprachwende der abendländischen Philosophie (die letzten
Werke Heideggers, das Eindringen anglo-amerikanischer Strömungen
ins europäische Denken, die Entwicklung von Sprachtechnologien);
im Verein damit der Niedergang der universalistischen Diskurse
(der metaphysischen Doktrinen der Moderne: der Erzählungen
[récits] vom Fortschritt, vom Sozialismus, vom Überfluß,
vom Wissen). Die Theorie-Müdigkeit und die elende Erschlaffung,
die sie begleitet (Neo-dies, Neo-das, Post-dieses, Post-jenes).
Die Stunde des Philosophierens."